Angst um den Angstmann

Das war dann wieder so eine Gelegenheit, bei der ich mir gewünscht habe, ich hätte einen Job, bei dem ich einfach Akten von einer Seite des Schreibtisches auf die andere stapeln könnte. Denn nachts wache ich auf, sehe vor meinem inneren Auge wie Herr F. an einer Überdosis von was auch immer oder an seinem Erbrochenen erstickt in seinem Zimmer liegt und versuche den Gedanken weit weg zu packen und mir stattdessen vorzustellen, es gehe ihm gut, ich würde ihn friedlich schlafen sehen und zupfe in Gedanken seine Bettdecke zurecht.

Als ich morgens aufstehe, mache ich als erstes mein Diensthandy an, immer noch keine Nachricht von Herrn F. „Ach, sterbt doch einfach alle!“, schimpfe ich vor mich hin und weiß gar nicht, warum sich jetzt plötzlich Wut in meine Sorge mischt. Am Tag zuvor hatte ich morgens eine Nachricht von ihm bekommen, seine Oma wäre gestorben und deshalb würde er für heute absagen und mich bitten, seinen Termin bei der Suchtberatung zu verschieben. Dort bringe ich ihn normalerweise hin, denn Herr F. hat neben einer Depression auch eine generalisierte Angststörung, die es ihm oft nicht ermöglicht, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder überhaupt nur alleine das Haus zu verlassen. Dazu gesellt sich ein Suchtproblem, besonders Cannabis ziehe ihm dabei den Stecker, so Herr F. selbst, denn das würde dazu führen, dass er erst Recht nicht aus dem Haus ginge. Den Alkohol habe er inzwischen meistens im Griff, aber ich weiß, dass ihm auch das regelmäßig wieder entgleitet. Es ist noch nicht lange her, dass wir gemeinsam sehr viel Altglas entsorgt haben.

Kurz vor Feierabend meldet sich seine Freundin dann bei mir, die sich zur Zeit in der psychiatrischen Klinik befindet. Sie sei in großer Sorge um Herrn F., er habe sich beim Drogenkonsum nicht im Griff und sie befürchte, dass ernsthafte Gefahr bestünde. Hm, dass es da jetzt weder um Alkohol noch Cannabis geht, ist klar. Von meiner Kollegin, die die Freundin von Herrn F. unterstützt, weiß ich, dass er neulich Liquid Ectasy genommen hat. Ich google das kurz, lese was von Narkosemittel und klicke direkt wieder weg, weil das mein Kopfkino nur mit noch mehr unguten Bildern füttert. Also versuche ich, ebenfalls Kontakt zu ihm aufzunehmen und als am nächsten Tag immer noch keine Nachricht da ist, bin ich extrem alarmiert und beratschlage mich gerade mit meinen Kolleginnen und Kollegen, was jetzt zu tun ist, da kommt doch noch eine Entwarnung von Herrn F. bei mir an.

Kurze Zeit später sitze ich mit ihm in der Küche und bin einfach nur erleichtert, obwohl er mir mit Tränen in den Augen davon erzählt, dass er es nicht geschafft hat, seine Oma nochmal zu besuchen, trotzdem er gewusst habe, dass es bald zu Ende gehe und ihm so – mal wieder – die Einschränkungen seiner Erkrankung vor Augen geführt wurden. „Natürlich merke ich die ja täglich, und doch …“ Er lässt den Rest des Satzes in der Luft hängen, wir reden noch eine Weile, so offen wie heute ist er selten, aber Tröstendes für ihn finde ich nicht. Nur für mich, denn auch wenn es ihm schlecht geht, aus schlecht kann besser werden, aber tot ist tot. So schlicht kann die Welt für eine kurzen Moment sein.

4 Gedanken zu „Angst um den Angstmann“

  1. Die Wut kommt von der Gegenübertragung.
    Du last ja bei mir, glaube ich, dass wir familiär da ähnliche Probleme haben. Ich koche auch teilweise zur Wut, wichtig ist halt, sie nicht auszuagieren. Und Abgrenzung. Dass das auch als Sozialarbeiter nicht einfach ist, ist klar. Habt ihr sowas wie Supervision?

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    1. Mit der Gegenübertragung hast du bestimmt Recht, mit der Abgrenzung sowieso. Das war mal wieder eine dieser Gelegenheiten, bei denen ich mich nicht abgrenzen konnte, obwohl ich neulich erst dachte, es würde mir inzwischen besser gelingen.

      Supervision haben wir alle 6 Wochen, da werde ich nächstes mal wahrscheinlich wirklich über Herrn F. sprechen.

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      1. Ich denke Profis können sich auch nicht immer Abgrenzen und fallen auch in Gegenübertragungen. Solang du das selbst aber reflektieren kannst ist das ja OK. Alle 6 Wochen ist bei so nem Job aber wenig….:/

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