Was mir Herr G. über Drogen beigebracht hat

Nun also Phenibut. Ich habe schon davon gehört, weiß aber nicht mehr was. Also lasse ich mir von Herrn G. kurz schildern, was das für eine Substanz ist, ein Medikament aus der Sowjetunion, welche am GABA-Rezeptor andockt. Bei ihm würde es angstlösend wirken, ihn redseliger machen – wie bei anderen Menschen Alkohol – und ihm deshalb bei seinen sozialen Ängste helfen. Er selbst trinkt nie etwas, hat sich aber im Laufe seines jungen Lebens schon durch eine breite Palette psychoaktiver Substanzen konsumiert. Mein Wissen über Drogen aller Art hat sich enorm erweitert seit Herr G. mein Klient ist.

Tilidin, Ketamin, Kratom, Amphetamine, MDMA, Heroin, Opium, Benzodiazepine – dank des Internets ist es problemlos möglich, sich all das nach Hause schicken zu lassen, sich über die Einnahme, Wirkweisen und Dosierungen zu informieren ohne andere Leute persönlich zu kennen, die es ebenfalls nehmen. Herr G., mittlerweile 23 Jahre alt, ist so als Jugendlicher zu einer Opiat- bzw. Opioidabhängigkeit gekommen, ohne Dealer, ohne Kontakte zu einer Szene, als Gymnasiast aus sogenanntem gutem Hause, der seinen Konsum so lange es ging nicht nur vor seinen Eltern, sondern auch vor den spärlichen Freunden und seinen Mitschülern verheimlicht hat.

Als ich ihn im Anschluss an eine stationäre Reha-Behandlung kennenlerne, weiß ich, dass er neben seinen psychischen Erkrankungen auch eine Suchterkrankung hat, gehe aber naiverweise von einer Abstinenz aus, obwohl er im Vorstellungsgespräch selbst erzählt hat, dass er nach wie vor Suchtdruck habe. Als mir sein Mitbewohner nach ein paar Wochen erzählt, Herr G. würde wieder Heroin rauchen, lande ich also unsanft auf den Boden der Tatsachen.

Eigentlich dürfen in WGs des Ambulant Betreuten Wohnens keine Drogen konsumiert werden. Andererseits ist mir ziemlich klar, dass ihm sicher nicht geholfen wäre, wenn wir ihn jetzt rausschmeißen. Selbst die Androhung eines Rausschmisses beim nächsten Mal, hätte nur dazu geführt, dass er den Konsum besser verheimlicht hätte. Wegen eines Rückfalls ist er bereits aus einer Jugendeinrichtung geflogen, bevor er die stationäre Therapie angetreten hat. Aber so eine Entscheidung kann ich natürlich nicht alleine treffen. Also diskutieren wir im Team darüber und beschließen, dass er bleiben kann, wenn er mit mir im Austausch über das Thema bleibt und eine Suchtberatung kontaktiert.

Seitdem sind drei Jahre vergangen. Im ersten Jahr hatte er zahlreiche Rückfälle, die ihn psychisch stark destabilisierten. Bis ich ihn schließlich dazu dränge, sich entweder für die Substitution zu entscheiden oder zu einer dauerhaften Abstinenz. Also besorgt er sich erst einmal illegal das Subsitutionsmittel Buprenorphin und nimmt es einige Wochen, während wir gemeinsam den Kontakt zu einem Substitutionsarzt aufnehmen. Letztlich entschließt er sich aber doch zu einem Entzug und zur Abstinenz von Opioiden, die ihm bis auf sehr wenige Rückfälle gelungen ist.

Inzwischen macht er eine Ausbildung und kann sich nach wie vor kein komplett drogenfreies Leben vorstellen, hat einige Zeit positive und negative Erfahrungen mit Ketamin und Amphetaminen gesammelt, kriegt aber sein Leben im großen und ganzen auf die Reihe. In den drei Jahren habe ich mir immer wieder Sorgen um ihn gemacht, habe mir anfangs genau die Dosierungen der verschiedenen Substanzen schildern lassen, bin inzwischen aber deutlich gelassener geworden. Er hat ein Problembewusstsein, was sein Suchtverhalten betrifft und es ist ihm extrem wichtig, seine Ausbildung abzuschließen. Wenn ihm die Dinge zu entgleiten drohen, hat er es immer wieder geschafft, die Notbremse zu ziehen und das gemeinsame reflektieren seiner Konsumgewohnheiten haben mit dazu beigetragen, dass er sich diese nicht so einfach schönreden kann.

Ich habe die Entscheidung, ihm nicht zu kündigen, sondern ihm eine Gesprächspartnerin zu sein, nicht bereut. Schließlich ist Sucht ein Thema, was in der Psychotherapie schlecht bearbeitet werden kann, da Abstinenz dafür eigentlich eine Voraussetzung ist. Auch wenn das Thema Sucht ihn sicher immer oder zumindest noch lange Zeit begleiten wird und das Verlangen nach Opiaten nach wie vor da ist, bin ich inzwischen zuversichtlich, dass er seinen Weg gehen wird.

Vom Klient zum Freund

Nachdem ich im vorherigen Blogbeitrag ausführlich dargestellt habe, wie wichtig es ist, die richtige Distanz zu den Klientinnen und Klienten einzunehmen, kommt jetzt ein Beispiel dafür, warum das nicht immer einfach ist und warum es auch schön sein kann, mal einen professionellen Grundsatz über Bord zu werfen.

Denn da ist Stephan, den ich fast zwei Jahre als meinen Klienten unterstützt habe, der ist vor ziemlich genau einem Jahr nach Hamburg gezogen, um dort zu studieren. Er ist zwar kaum mehr als halb so alt wie ich, aber klug und witzig und war einer meiner Lieblingsklienten, denn wir haben viel miteinander gelacht. Mir ist das selbst oft gar nicht so aufgefallen, aber eine Kollegin meinte zum Beispiel ganz neidisch, sie möchte jetzt auch mal einen Klienten, mit dem es so viel zu Lachen gäbe. Gemeinsam haben wir den Umzug nach Hamburg vorbereitet und haben viel Zeit miteinander verbracht. Die ursprünglich einstündigen Termine haben irgendwann so lange gedauert bis ich den nächsten Termin hatte und das waren dann oft direkt mal zwei Stunden. Und nachdem klar war, dass er sowieso in ein paar Wochen weg sein würde, habe ich mir auch keinen Kopf darüber gemacht, es gab schließlich viel zu tun und zu reden.

Nun ist es natürlich nicht ganz leicht, in einer fremden Stadt Fuß zu fassen und deshalb war ich immer etwas besorgt, er könne im fremden Hamburg in ein Loch fallen. Dass er bisweilen suizidale Krisen hatte, wusste ich und deshalb hatte ich vor, in der ersten Zeit ab und an mit ihm zu telefonieren – zumindest so lange, bis er beim Ambulant Betreuten Wohnen in Hamburg gut gelandet war.

Also haben wir ungefähr alle zwei Wochen miteinander telefoniert, wie ich das so beim Arbeiten mache, mit Termin. Und nach zwei/drei Monaten hatte ich das Gefühl, so aus professioneller Sicht kann ich jetzt loslassen. Aber auf einer persönlichen Ebene irgendwie nicht. Also habe ich gesagt, „Ich lasse Sie frei“ und habe ein kurzes Stutzen in der Leitung ob meiner kryptischen Bemerkung gehört und dann erklärt, wie ich es meine: Dass ich weiter gerne Kontakt zu ihm hätte, wir das Verhältnis jetzt aber insofern normalisieren, dass wir dafür keine Termine mehr machen, sondern uns über Nachrichten oder am Telefon so austauschen, wie wir wollen.

Und so habe ich nicht mehr während meiner Arbeitszeit Kontakt zu ihm gehabt, sondern während meiner Freizeit ab und an mit ihm telefoniert. Und als er über Weihnachten hier im Süden zu Besuch war, haben wir uns getroffen und einen netten Abend miteinander verbracht, an dem dann noch der letzte professionelle Anstrich abgekratzt wurde, das Sie. Und nun telefonieren wir regelmäßig miteinander, sehen uns alle paar Monate, wenn er hier im Süden ist. In Hamburg habe ich ihn auch schon besucht und wir hatte viel Spaß dabei, gemeinsam durch die Stadt zu ziehen. Und auf der einen Seite komme ich mir sehr unprofessionell vor und auf der anderen Seite denke ich, warum sollte ich vor lauter Professionalität einen guten Freund weniger haben.